LIBET-EXPERIMENT ZWISCHEN WILLENSFREIHEIT UND DETERMINISMUS


Engin Erkiner 


INHALTSVERZEICHNIS 

1. EINLEITUNG
2. HIRNFORSCHER UND DIE WILLENSFREIHEIT
2.1. Vermischung von Ursachen und Gründen
2.2. Ich- und dritte Person Perspektive
2.3. Beziehung zwischen Handlungen und Gehirnprozessen (Reduzierbarkeit und     Determinismus).
3. LIBET-EXPERIMENT
3.1. Das Ergebnis und Interpretationen des Experiments
3.2. Willensfreiheit durch das Vetorecht
3.3. Eine andere Interpretation des Experiments
3.4. Das Experiment und zerebralen Kategorienfehler
3.5. Libet-Experiment und Zeitinterval
3.6. Libet-Experiment beweist, dass es keine Willensfreiheit gibt
4. MYTHOS DETERMINISMUS
4.1. Mentale Ereignisse sind nicht isolierbar
4.2. Es gibt keinen eindeutigen Kausalitätsbegriff
4.3. Die Unkontrolierbarkeit der relevanten Faktoren während des Experiments
5. WAS FEHLT, IST DAS VERHÄLTNIS ZWISCHEN DEN BEWUSSTEN- UND UNBEWUSSTEN PROZESSEN IM GEHIRN  
6. SCHLUSSFOLGERUNG
7. LITERATURVERZEICHNIS


1. EINLEITUNG

Mit den enormen Entwicklungen in der Hirnforschung ist das Verhältnis zwischen Geistes-und Naturwissenschaften zerstört. Die Willensfreiheit ist seit Jahren ein Thema der  Hirnforschung, die ein Teil der Naturwissenschaft. Eine ihrer wichtigen Thesen behauptet, dass die Willensfreiheit eine Illusion ist. Die Hirnforscher wie Wolf Singer, Gerhard Roth und Wolfgang Prinz haben die Auffassung, dass mentale Phänomenen durch die natur-wissenschaftlichen Gesetze erklärbar sind. Der Geist ist nicht mehr ein alleiniges Thema der Philosophie, sondern auch der Naturwissenschaften. 

In dieser Arbeit wird die Debatte über die Willensfreiheit dargestellt und diskutiert. 

Die von der Dozentin formulierten Fragen dieser Arbeit sind: 

“Auf welche Weise versuchen Hirnforscher die Annahme in Frage zu stellen, Menschen seien frei? Wie soll Freiheit in den Libet-Experimenten experimentell untersucht werden und welche Schlussfolgerungen wurden daraus gezogen? Stellen Sie dar, wie Brigitte Falkenburg diese Experimente und die Interpretation ihrer Ergebnisse kritisiert. Finden Sie Frau Falkenburgs Einschätzung überzeugend? Begründen Sie Ihre Meinung.”

Die Fragen werden etappenweise beantwortet. Zuerst werden die Begrenztheit der Freiheit und die Art der Freiheit, die die Hirnforscher in Frage stellen, erläutert. Die Differenz zwischen Ursachen und Gründen, Ich- und dritte Person Perspektive, Davidsons Perspektive über die Beziehung zwischen Ursache und Handlung und wie diese von den Hirnforschern aufgehoben wurden? Die Hirnforscher haben die Auffassung, dass die Handlungen durch Gehirnprozesse erklärbar sind und dass diese zu den physikalischen Prozessen im Gehirn reduzierbar sind. 

Die folgenden Fragen werden beantwortet: Wie erklären die Hirnforscher das Verhältnis zwischen den bewussten und unbewussten Prozessen? Wie interpretieren die Hirnforscher das Libet-Experiment? Der Unterschied zwischen Benjamin Libet und den Hirnforschern bezüglich der Interpretation dieses Experiments wird erläutert. Was ist Veto-Recht und ihre Beziehung mit der menschlichen Freiheit? 

Das Libet-Experiment ist der Kernpunkt der Thesen der Hirnforscher über die Nichtexistenz der Willensfreiheit. Dieses Experiment und ihre Schlussfolgerungen werden dargestellt. 

Nach der Erläuterung der Falkenburgs Kritik an diesem Experiment wird diese Kritik kritisch bewertet. Mit der Schlussfolgerung endet diese Arbeit. 

2. HIRNFORSCHER UND DIE WILLENSFREIHEIT

Jeder Mensch wird in gewisser Weise durch ihre Sprache, geborene soziale Umgebung und ihre Gene vordeterminiert. Es gibt keine grenzenlose menschliche Freiheit. Der Mensch kann ihre Freiheit nur in begrenzter Form nutzen. 

Bewusste Handlung ist das Merkmal der Willensfreiheit.  Der Mensch entscheidet erst eine Handlung, dann praktiziert sie. 

Es scheint uns, als gingen unsere Entscheidungen unseren Handlungen voraus und wirkten auf Prozesse im Gehirn ein, deren Konsequenz dann die Handlung ist.”

Laut des Libet- Experiments formiert die Entscheidung für eine Handlung durch neuronale Bewegung im Gehirn (Bereitschaftspotenzial) kurz vor der bewussten Entscheidung. Roth zieht eine wichtige Konsequenz aus diesem Ergebnis: “Nicht mein bewußter Willensakt, sondern mein Gehirn hat entschieden!”

Das Libet-Experiment war wichtig aber es war nicht alles. Das Ergebnis des Experiments wurde aus verschiedenen Punkten kritisiert und die Hirnforscher verteidigten sich gegen die Kritiker für ihre Überzeugung, dass keine Willensfreiheit gibt. Das Experiment wurde in verschiedener Weise interpretiert und manche Kritiker fanden die Vorgehensweise der Hirn-forscher als “naiver Empirismus”.

Durch die Antworten an den Kritikern ist die Überzeugung der Hirnforscher umfassender geworden. Die wichtigen Kritikpunkten waren: Vermischung von Ursachen und Gründen, Ich- und dritte Person Perspektive, Beziehung zwischen Handlungen und Gehirnprozesse (Reduzierbarkeit und Determinismus).

2.1. Vermischung von Ursachen und Gründen

Laut der Philosophen vernachlässigen die Hirnforscher der fundamentale Unterschied zwischen Ursachen und Gründen. Sie begehen hier einen Kategorienfehler.  Die Kausalität gehört zur Natur aber die Handlung zu den Menschen. Der Hauptunterschied zwischen Handlung und Ursache ist die Intentionalität. Menschen wollen durch ihre Handlung ein Ziel erreichen. Die Handlung wird bewusst durchgeführt und es ist möglich, auch anders zu handeln. 

Roth lehnt die totale Trennung von Handlung und Kausalität ab und zitiert den Standpunkt von Davidson. 

Im Anschluss an den ‚klassischen’ Standpunkt Donald Davidson, dass Handlungs-erklärungen Kausalerklärungen sind.”

Diese Beziehung zwischen Kausalität und Handlung ist für die Verbindung der Gehirnprozessen und Handlungen wichtig. Die philosophischen Interpretationen der kognitiven Leistungen sind spekulativ und nicht beweisbar. Dagegen kann die Natur-wissenschaft (besonders Physik und Chemie) der Mechanismus der kognitiven Leistungen erklären. Bestimmte kognitive Leistungen haben direkte Verbindung mit den bestimmten Gebieten im Gehirn. Wenn bestimmte Teile des Gehirns zerstört werden (z.B. wegen eines Unfalls), fallen die entsprechenden kognitiven Leistungen wie Lernen, Erinnern, Konzentrie-ren aus oder funktionieren wenig. Hier steht eine direkte Verbindung zwischen den Ursachen (verletzte Gebiet) und den Leistungen des Gehirns. 

2.2. Ich- und dritte Person Perspektive

Der Mensch hat einen privilegierten Zugang zu den kognitiven Leistungen des Gehirns. Dieser Zugang ist nur aus der Ich-Perspektive möglich, sie sind nicht objektivierbar (erklärt durch dritte Person Perspektive) wie in der Naturwissenschaft.

Singer hat die Auffassung, dass diese Feststellung zur Vergangenheit gehört. Als psychisch bezeichnete Phänomene können mit naturwissenschaftlichen Methoden objektivierbar sein. 

“Darunter fallen wahrnehmen, Vorstellen, Erinnern und Vergessen, Bewerten, Planen und Entscheiden, und schließlich die Fähigkeit, Emotionen zu haben. Alle diese Verhaltens-manifestationen lassen sich operationalisieren , aus der Dritten-Person-Perspektive heraus objektivieren und im Sinne kausaler Verursachung auf neunorale Prozesse zurückzuführen.” 5

2.3. Beziehung zwischen Handlungen und Gehirnprozessen (Reduzierbarkeit und Determinismus).

Singer hat die Auffassung, dass deterministische Gesetze der physikochemischer Prozesse auch für Menschen gelten sollen, weil diese für die Gehirnfunktionen der Tiere gültig sind. Am Endeffekt können die Handlungen zu den deterministisch laufenden Prozessen im Gehirn reduziert werden. 6

3. LIBET-EXPERIMENT

Das Libet-Experiment kann als ein Versuch der Operationalisierung der Willensfreiheit bewertet werden. Um die Frage, ob der Mensch die Willensfreiheit hat, zu beantworten, soll ein geeignetes Experiment konstruiert und durchgeführt werden. Durch dieses Experiment soll die Frage beantwortet werden: „Wie sind die Aktivitäten von Nerverzellen im Gehirn mit bewusstem, subjektivem Erleben und mit unbewussten geistigen Funktionen verbunden?” 7

3.1. Das Ergebnis und Interpretationen des Experiments

Libet maß die Bereitschaftspotenzial (BP) im Kopf und Handlungsabsicht der Versuchperson. (Die geschichtliche Entwicklung des Experiments und die geniale Ausstattung werden hier nicht erwähnt.) 8 Das Ergebnis war: “Die Einleitung der frei gewollten Handlung scheint im Gehirn unbewußt einzusetzen, und zwar deutlich bevor die Person sich dessen bewußt ist, dass sie handeln will!” 9

Dieses Ergebnis hat gravierende Folgen für die Willensfreiheit, weil keine Alternative gibt. Die Willensfreiheit braucht die Wahlmöglichkeit zwischen den Handlungen. Wenn eine Handlung obligatorisch ist, d.h. im Gehirn schon (unbewusst) entschieden wurde, dann gibt es keine Willensfreiheit.

Aus dem Libet-Experiment wurden verschiedene Schlussfolgerungen gezogen.

3.2. Willensfreiheit durch das Vetorecht

Libet’s Experiment hatte zwei wichtige Ergebnisse: Die Existenz des Unbewussten und ihr Funktion im Handlungsprozess. Durch das Experiment wurde die Existenz des Unbewussten experimentell bewiesen. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts war diese Existenz schon in der Psychoanalyse bekannt, nur experimentell nicht verifiziert. Die unbewussten Prozesse im Gehirn funktionierten schneller als das bewusste. 

“Die Einleitung der frei gewollten Handlung scheint im Gehirn unbewusst einzusetzen, und zwar deutlich bevor die Person sich dessen bewusst ist, dass sie handeln will!” 10

Libet hat die Auffassung, dass unbewusster Wille gestoppt werden kann. Entscheidet die Person schon für eine Handlung unbewusst, denkt aber später, dass diese Handlung nicht in Ordnung ist, dann wird der Handlungsprozess durch bewussten Willen abgebrochen. Libet hat diese Geschehen beim Experiment beobachtet:

“Wir konnten jedoch zeigen, dass die Versuchspersonen eine Handlung unterdrücken konnten, die zu einem vorher festgelegten Zeitpunkt stattfinden sollte.” 11

Obwohl das BP schon existiert, kann die Handlung abgebrochen werden. Das bewusste Veto hat eine Kontrollfunktion, d.h. wenn eine unbewusste Entscheidung sozial unakzeptabel ist, kann sie durch ein bewusstes Veto geändert oder gestoppt werden.

Libet zog die Schlussfolgerungen: Dieses Ergebnis stimmt mit den religiösen und ethischen Mahnungen überein. Die Selbstkontrolle der Menschen bringen die unbewusst gewollten aber gesellschaftlich ungeeigneten Handlungen unter Kontrolle. Dies bedeutet, dass es die Willensfreiheit gibt. Der Mensch kann zwischen verschiedenen Handlungen wählen. Obwohl dieser Wahlprozess im Rahmen der existierenden Möglichkeiten begrenzt ist, existiert die Willensfreiheit.

3.3. Eine andere Interpretation des Experiments

Helmrich hat die Auffassung, dass das Experiment anders interpretiert werden kann. 

“Die eigentliche Entscheidung, bei einem Experiment innerhalb einer kurzen Zeitspanne von maximal drei Sekunden mit einem Finger auf einen bestimmten Knopf zu drücken, winr bereits gefält, wenn sich die Versuchsperson bereits erklärt, an dem Experiment entsprechend der Versuchsanleitung teilzunehmen.” 12 

Helmrich betrachtet die Handlung während des Experiments (mit einem Finger auf einen bestimmten Knopf zu drücken) nicht kurzfristig, sondern als ein Prozess. Die Zeitspanne zwischen der Vorbereitung und Durchführung der Handlung ist deutlich länger als ein paar Sekunden. Was von Libet gemessen wurde, war nur der letzte Teil der Handlung. 

“Die von Libet u.a. gemessenen Teilaspekte sind nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Gesamt von Handlungsentscheidung und Ausführung.” 13 

Helmrich akzeptiert, dass ein Veto die Durchführung der Handlung stoppen kann und gibt einen täglischen Beispiel: Wie kann ein Ladendieb je nach der Lage seine Meinung im kurzen Zeitspanne ändern? Er will etwas stehlen, aber nicht sicher ob er beobachtet wird und er ändert seine Meinung ständig. 

Helmrich verteidigt die Existenz der Willensfreiheit.

3.4. Das Experiment und zerebralen Kategorienfehler 

Obwohl er namentlich nicht erwähnt wurde, kritisierte Schockenhoff das Libet-Experiment für die Vernachlässigung der Intentionalität. Libet und Neurowissenschaftler verwechselten die Wer-Frage (Wer handelt?) mit der Was-Frage (Was geschieht?). Sie wollten zwei verschiedene Kategorien zu einem reduzieren. 

“Neurowissenschaftliche Theorien wollen menschlische Handlungen als eine Unterart der Klasse natürlicher Ereignesse begreifen, ohne dass sie eine Erläuterung dafür geben, warum dies so ist?” 14 

In diesem Fall ist das Bewußtsein nicht das Ergebnis der Forschung, sondern der Aus-gangspunkt. 

“Eine wissenschaftliche Theorie, die mentale Phänomene aus neuronalen Gegebenheiten erklären möchte, ist selbt ein mentales Phänomen, denn der Vorgang des wissenschaftlichen Erklärens spielt sich im Bewußtsein ab.” 15 

Es wird einfach vergessen, dass Libet-Experiment auch eine Handlung ist. Wie diese Hand-lung zustande kommt und durchgeführt wird,  kann nicht erklärt werden.

3.5. Libet-Experiment und Zeitinterval

Libet untersuchte die Handlungen, die sehr kurzfristig und motorisch waren. Die Handlungsdauer zwischen Absicht und Ausführung beträgt einige Sekunden und Handlung-sart war eigenartig. Die waren nicht die übliche Handlungen der Menschen. 

Walde hat die Auffassung, dass Handlungen wie Urlaubsplanung, Planung eines Verbrechens oder individuelle Berufswahl, bei denen Absicht und Ausführung zeitlich weit auseinander liegen, untersucht werden sollen.  Walde glaubte nicht, dass so eine Untersuchung durch-führbar ist. 

“Unter gewöhnlichen Laborbedingungen ist es wahrscheinlich kaum realisierbar, Intentionen und Handlungen mit großem zeitlichen Abstand zueinander zu studieren.” 16 

Wenn es gültig wäre, würde das Experiment uns nur einen kleinen Bruchteil der Handlungen erklären. Es hat keine allgemeine Gültigkeit.

3.6. Libet-Experiment beweist, dass es keine Willensfreiheit gibt

Singer, Roth und Prinz bewerteten das Libet-Experiment als einen Beweis gegen die Willesfreiheit. 

“Der Interpretation des Libet-Versuchs zufolge findet eine Entscheidung früher im Gehirnals im Bewußtsein einer Person statt. Das kann nur bedeuten, dass unser bewußter Willensimpuls so etwas wie ein Ratifizieren einer Entscheidung ist, die das Gehirn schon getroffen hat: Ich will, was ich tue.” 17 

Es gibt einige Unterschiede zwischen den Hirnforschern über die Interpretation des Experiments. Prinz hat die Auffassung, dass das Experiment sehr engen Zeitrahmen hat und dass es ungewiss ist, wie weit das auf andere Situationen schließen kann. 
Die anderen Argumentationen der Hirnforscher gegen die Willensfreiheit wurden schon erwähnt. 

4. MYTHOS DETERMINISMUS 

Brigitte Falkenburg schrieb ein umfassendes Buch mit dem Titel „Mythos Determinismus“ über die Hirnforschung und das Libet-Experiment. Sie hat die Kriterien des Experiments kritisiert. Ihrer Auffassung nach ist es ungewiss, was Libet gemessen hat. 

Nach den Kriterien der experimentellen Methode, (…) ist schlicht und einfach völlig unklar, was Libet eigentlich genau gemessen hat.” 18 

Sie begründet ihre Bewertung unter vier Punkten: 

4.1. Mentale Ereignisse sind nicht isolierbar

Das Libet-Experiment ist ein naturwissenschaftliches Experiment mit dem Bewußtsein. Es gibt eine Beziehung zwischen den neuronalen Aktivitäten im Gehirn und der Ausführung der bestimmten Aufgaben durch die Versuchsperson. Sie gibt die entsprechende Information über ihr Erleben während des Experiments. 

Naturwissenschaftliche Experimente können isoliert werden. Im Libet-Experiment kann die Versuchsperson gegen die äußere Einflusse isoliert werden, nur Bewusstseinskomponenten können nicht isoliert und einzel bewertet werden. Das Gehirn funktioniert als Ganzes, ein Ereignis in einem bestimmten Teil des Gehirns gehört nicht nur diesem Teil, sondern dem ganzen Gehirn. Bewussten und unbewussten Entscheidungen sind voneinander nicht trennbar. Die Bewertung, dass unbewusste Entscheidung der bewussten vorgeht, ist nicht haltbar, weil das Unterschiedskriterium zwischen den bewussten und unbewussten nicht haltbar ist. 

“Die Gehirnfunktionen und Bewusstseinskomponenten der Versuchspersonen lassen sich aber nicht isolieren. Hier sind die Experimente der Hirnforschung auf kausale Analysen ange-wiesen, die sehr unterschiedlichen Charakter haben können.” 19 

4.2. Es gibt keinen eindeutigen Kausalitätsbegriff

“Der neuronale Determinismus behauptet, dass die neuronale Aktivitäten des Gehirns unsere mentalen Leistungen vollständig determinieren, weil alles, was wir bewusst erleben, durch das physische Gehirngeschehen verursacht ist.” 20 

Laut den Hirnforschern gibt es eine klare Kausalität im Libet-Experiment: Die Ursache ist die durch die neuronalen Aktivitäten formierte BP und die Wirkung ist die bewusste Entscheidung. Falkenburg erklärte in ihrem Buch, dass der Kausalbegriff ein vorwissen-schaftliches Konzept war. Sie zitierte das empiristisches Kausalitätsverständnis von David Hume: “Der Eindruck einer notwendigen Verknüpfung beruht nur auf Gewöhnheit.” 21   Das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung ist nicht gesetzmäßig, sondern regelmäßig. Weil die Natur kausal nicht geschlossen ist, gibt es nur probabilistischen Determinismus. Falkenburg zeigte Exemplare nicht nur von der Quantenmechanik, auch von der Thermo-dynamik und den biologischen Prozessen. 

Libet-Experiment zeigte, dass es eine Korrelation zwischen physischen und mentalen Phänomenen gibt und nicht mehr. Diese zwei verschiedenen Phänomene können nicht ge-meinsam gemessen werden (Inkommensurabilität). 

4.3. Die Unkontrolierbarkeit der relevanten Faktoren während des Experiments

Die Experimentatoren vernachlässigen einige kausale Faktoren während des Experiments, die nicht relevant sind.  Für die Idealisierung der Ergebnisse des Experiments werden sie vernachlässigt. Der gleiche Prozess gilt nicht für die neurowissenschaftlichen Experimenten. Für das Libet-Experiment werden die kausalen relevanten Faktoren nicht kontrolierbar. 

“Wer sagt, dass Sie in einem Reiz-Reaktions-Experiment dasselbe erleben und die Knöpfe auf dieselbe Weise drücken, wenn Sie gerade aus dem Urlaub kommen, Ärger mit Ihrem Chef haber oder unausgeschlafen sind und zwei Tassen Kaffee mehr getrunken haben als sonst?” 22 

5. WAS FEHLT, IST DAS VERHÄLTNIS ZWISCHEN DEN BEWUSSTEN- UND UNBEWUSSTEN PROZESSEN IM GEHIRN  

Falkenburg kritisierte das Libet-Experiment und die Interpretation über dessen Ergebnisse: Kausalität ist ein vorwissenschaftlicher Begriff, mentale Phänomene sind nicht isolierbar sowie die naturwissenschaftlichen und eine physischen Phänomen können nicht mit den mentalen zusammen gemessen werden (Inkommensurabilität). Weiterhin kritisierte Sie die Nicht-Idealisierbarkeit der mentalen Phänomene. Die Unterschiedlichkeit zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften steht als Mittelpunkt in ihrer Kritik. 

Was besonders fehlt, ist das unbewusste Phänomen im Gehirn. Obwohl Sie erwähnte, dass das Kriterium für die Unterscheidung zwischen den bewussten und unbewussten Phänomenen im Gehirn nicht eindeutig ist, diskussierte Sie nicht das Verhältnis zwischen den Beiden. 

Das wichtigste Ergebnis des Libet-Experiments ist, dass unbewusste Entscheidung für eine Handlung zeitlich der bewussten Entscheidung vorausgeht. Das Verhältnis zwischen den  bewussten und unbewussten Phänomenen im Gehirn, nämlich ob sie voneinander unterscheidbar, sogar unabhängig sind, sind bei der Bewertung des Libet-Experiments wichtig. 

Das Thema Unbewusste war ziemlich neue und erst am Anfang des 20. Jahrhunderts von Sigmung Freud wissenschaftlich vorgestellt worden. Danach hat ein wichtiger Meinungs-unterschied zwischen Freud und Carl Gustav Jung über das Unbewusste und dessen Ver-hältnis mit dem Bewussten stattgefunden. Laut Jung stehen die unbewussten und bewussten Phänomenen im Gehirn immer im gegenseitigen Verhältnis, d.h. sie sind nicht voneinander unabhängig. Die bewussten und unbewussten Phänomene im Gehirn ändern sich ständig und sie sind gegeneinander abhängig. Dass eine unbewusste Entscheidung für eine Handlung zeitlich der bewussten vorgeht, kann deshalb nicht als Ergebnis des Libet-Experiments angenommen werden, weil diese zwei untrennbar sind. 

Es ist Merkwürdig, dass sich weder Falkenburg noch andere Kritiker des Libet-Experiments  über diesen wichtigen Streitpunkt in der analytischen Psychologie geäußert haben. 23

6. SCHLUSSFOLGERUNG

In dieser Arbeit wurde die Diskussion über die Willensfreiheit dargestellt und kritisch bewertet. Im Zentrum dieser Diskussion steht das Libet-Experiment und es wurde von zwei verschiedenen, nämlich  naturwissenschaftlichen und interdisziplinären Perspektiven be-wertet. 

Aus der naturwissenschaftlichen Bewertung stehen die Ergebnisse des Libet-Experiments im Zentrum. Die Ergebnisse zeigen, dass unbewusste Handlungsentscheidung vor der bewussten steht und dass die Versuchsperson will, was er schon unbewusst entschieden hat. Es gibt eine kausale Beziehung zwischen der BP und der Entscheidung für die Handlung. Die Entscheidung kann auf die neuronale Prozesse im Gehirn reduziert werden. 

Natur-und Geisteswissenschaftliche Bewertungen sind nicht einheitlich aber sie haben einige gemeinsame Feststellungen: mentale Ereignisse können nicht auf neuronale Aktivitäten im Gehirn reduziert werden; sie sind nicht isolierbar wie die naturwissenschaftlichen Phänome-nen; die Kausalität ist ein vorwissenschaftlicher Begriff; das Libet-Experiment ist selbst eine mehrstufige Handlung. 

Die Hirnforscher vermischen zwei verschiedene Aspekte: wenn ein bestimmtes Gebiet im Gehirn krank ist, können einige geistliche Funktionen wie Lernen, Konzentrieren, Erinnern zerstört werden. In diesem Fall gibt es eine kausale Beziehung zwischen dem zerstörten Teil und der Fehlfunktionen. Diese Beziehung kann nicht mit den anderen Beziehungen wie die Entstehung der BP und die Entscheidung für eine Handlung gleichgesetzt werden. 

Die Diskussion über die Willensfreiheit hat zwei wichtige Ergebnisse:

Erstens: Die Geltung der naturwissanschaftlichen Experimente mit dem Bewusstsein soll vorsichtig bewertet werden. Das Libet-Experiment hat gezeigt, dass nicht nur die Ergebnisse, sondern deren Interpretationen wichtig sind.

Zweitens: Die Hirnforschung ist eine interdisziplinäre Forschung, d.h. die Ergebnisse sollen von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen bewertet werden. Diese Interdisziplinität beinhaltet nicht nur Naturwissenschaft (besonders Physik und Chemie) und Philosophie, sondern auch die Psychologie. Die Beziehung zwischen den bewussten und unbewussten  Entscheidungen ist das Hauptergebnis des Libet-Experiments und die Beziehung ist seit ca. 100 Jahren ein Thema in der analytischen Psychologie und leider keiner der Wissenschaftler-innen bemerkte das, es so ist. 


________________

1 Singer, Wolf: Verschaltungen legen uns fest, in: Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit, 8. Auflage, Frankfurt a.M. 2013, S. 33.

2 Roth, Gerhard: Worüber dürfen Hirnforscher reden – und in welcher Weise, in: Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit, 8. Auflage, Frankfurt a.M. 2013, S. 73.

3 Kaiser, Gerhard: Warum noch debattieren? Determinismus als Diskurskiller, in: Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit, 8. Auflage, Frankfurt a.M. 2013, S. 264.

4 Singer, Wolf: Verschaltungen legen uns fest, in: Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit, 8. Auflage, Frankfurt a.M. 2013, S. 82 und Davidson, D. (1963), „Actions, Reasons, and Causes“, in: The Journal of Philosophy 60, S. 685-700.

5 Singer, Wolf: Verschaltungen legen uns fest, in: Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit, 8. Auflage, Frankfurt a.M. 2013, S. 34.

6 Ebenda, S. 37.

7 Libet, Benjamin: Mind Time – Wie das Gehirn Bewusstsein produziert?, Frankfurt a.M. 2007, S. 55.

8 Libet, Benjamin: Haben wir einen freien willen?, in: Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit, 8. Auflage, Frankfurt a.M. 2013, S. 268-74).

9 Ebenda, S. 276.

10 Libet, Benjamin: Haben wir einen freien willen?, in: Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit, 8. Auflage, Frankfurt a.M. 2013, S. 276).

11 Ebenda, S. 277.

12 Helmrich, Herbert: Wir können auch anders: Kritik der Libet-Experimente, in: Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit, 8. Auflage, Frankfurt a.M. 2013, S. 94.

13 Ebenda, S. 95.

14 Schockenhoff, Eberhard: Wir Phantomwesen. Über zerebrale Kategorienfehler, in: Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit, 8. Auflage, Frankfurt a.M. 2013, S. 168.

15 Ebenda, S. 168.

16 Walde, betine: Ein Fingerschnipsen ist noch keine Partnerwahl, in: Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit, 8. Auflage, Frankfurt a.M. 2013, S. 150.

17 Prinz, Wolfgang: Der Mensch ist nicht Frei. Ein Gespräch, in: Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit, 8. Auflage, Frankfurt a.M. 2013, S. 22.

18 Falkenburg, Brigitte: Mythos Determinismus, Heidelberg-Berlin, 2012, S. 191.

19 Falkenburg, Brigitte: Mythos Determinismus, Heidelberg-Berlin, 2012, S. 168.

20 Ebenda, S. 267.

21 Ebenda, S. 271.

22 Falkenburg, Brigitte: Mythos Determinismus, Heidelberg-Berlin, 2012, S. 178.


23 Jung, C.G.: Die Beziehungen zwischen dem ich und dem Unbewussten, München, 2014.


Warum war der Realsozialismus reformunfähig?


Engin Erkiner 


INHALTSVERZEICHNES

1. EINLEITUNG
1.1. Fragestellung
1.2. Aufbau der Arbeit 
2. ERKLÄRUNG DER BEGRIFFE
2.1. Nomenklatura
2.2. Realsozialismus und dessen Unterschiede vom wissenschaftlichen Sozialismus
2.3. Entwickelte Sozialismus
2.4. Marktsozialismus
3. DISKUSSIONEN ÜBER DIE SOZIALISTISCHE WIRTSCHAFT IN DEN 60’ER JAHREN 
3.1. Die Wurzeln der wirtschaftlichen Reformen
3.2. Facetten der Mißwirtschaft
3.3. Lösungsvorschläge
3.3.1. Offizielle Lösungen
3.4. Marktsozialismus
3.5. Che Guevara 
4. OTA ŠIK (1919-2004)
5. WARUM WAR EIN REFORM DRINGEND NÖTİG IN DER CSSR?
6. GRUNDLAGEN DER WIRTSCHAFTSREFORMEN
7. FRITZ BEHRENS UND OTA ŠIK 
8. MÖGLICHE KONSEQUENZEN DES PRAGER FRÜHLINGS IM SOZIALISTISCHEN BLOCK
9. FAZIT
10. QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS 


1. EINLEITUNG

“ [da]… die sozialistischen ökonomischen Verhältnisse die höherstehenden Verhältnisse sein müssen, eo ipso sollen sich auch die Produktivkräfte in diesen Verhältnissen schneller als im Kapitalismus entwickeln. Aber dies ist und bleibt nur ein ideologischer und politischer Wunsch, der immer wieder aufs neue von der Realität widerlegt wurde.” 1

Es gab viele Bemühungen ab den 1950’er Jahren um die Atraktivitat des Sozialismus zu erhöhen. Der Realsozialismus war der Hauptgewinner des Krieges gegen Nazi-Deutschland und hatte 1957 die erste Maschine (Sputnik) ins Weltall  geschickt. Trotz dieser Erfolge waren die Produktivkräfte des Sozialismus hinter dem Kapitalismus geblieben. Zahlreiche erfolglose wirtschaftliche Reformversuche wurden vorgenommen, um die Überlegenheit des Sozialismus gegen Kapitalismus bei der Entwicklung der Produktivkräfte zu beweisen. Die grosse Mehrheit der Nomenklatura in den sozialistischen Ländern war für die Reformen, einige Reformen wurden praktisiert aber ohne nennenswerten Erfolg. 

Mitteleuropäische sozialistische Länder wie Ungarn, Deutsche Demokratische Republik und Tschechoslowakai waren das zentrale Gebiet für die Reformdiskussion im Sozialismus.

In dieser Arbeit wird die ökonomischen und politischen Aspekten des “Prager Frühlings”, die Ideen von Ota Šik im Rahmen des Reformsozialismus in den 1960’er Jahren dargestellt und diskutiert. 

1.1. Fragestellung 

Warum war der Realsozialismus reformunfähig? 

Diese Frage ist wichtig, weil der Sozialismus, wie alle andere gesellschaftliche Systeme, seine Probleme hat. Die wirtschaftlichen Probleme des Systems wurden allgemein akzeptiert und es gab verschiedene Reformvorschläge, die zum Teil praktiziert worden sind. Trotzdem ist die wirtschaftliche Lage in verschiedenen sozialistischen Ländern nicht besser geworden. Der Realsozialismus konnte sich nicht reformieren. Die Frage ist über die Hauptursache der Nichtreformierbarkeit des Systems, das das vergangene Jahrhundert streng beeinflusst hat. 

1.2. Aufbau der Arbeit

Zuerst werden die in der Arbeit verwendeten Begriffe erklärt: Nomenklatura, Realsozialismus und dessen Unterschiede vom wissenschaftlichen Sozialismus, entwickelte Sozialismus und Marktsozialismus. Danach wird die Diskussion über den Marktsozialismus und Lösungs-vorschläge für die Ineffizienz der sozialistischen Wirtschaft in den 60’er dargestellt. Der Marktsozialismus war der Hauptvorschlag für die Lösung der immer gravierender ge-wordenen wirtschaftlichen Probleme in den sozialistischen Ländern. 

Die Reformideen von Che Guevara, der strikt gegen den Marktsozialismus war, werden kurz dargestellt. 

Nach kurzem Lebenslauf von Ota Šik wird die desolate wirtschaftliche Lage in der CSSR und dringende Nötigkeit der Reformen erläutert. 

Als Quelle wird Prager Frühling - Das Internationale Krisenjahr 1968, Band 1 verwendet. 

Šik war einer der wichtigsten Reformökonomen der sozialistischen Länder. Er hat seine Ideen in verschiedenen Büchern wie „Argumenten für den Dritten Weg“ und „Die Strukturwandel der Wirtschaftssysteme in den osteuropäischen Ländern“ dargestellt. Nach der Zusammen-fassung der wichtigsten Aspekte dieses Buches werden die Ideen von Šik mit dem anderen bekannten Reformökonom Fritz Behrens aus der DDR verglichen. Als die Basis dieser Vergleichung wird der Text von Behrens über den Dritten Weg genommen. 

Die Reformagenda von Šik und mögliche politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen dieser Agenda für das Land und die anderen sozialistischen Länder werden dargestellt. 

Am Ende der Arbeit wird eine Schlussfolgerung gezogen. 

2. ERKLÄRUNG DER BEGRIFFE 

2.1. Nomenklatura

Die Nomenklatura wird meistens als Funktionstäger der kommunistischen Partei definiert.  Die Mitglieder des Politbüros und Zentralkommitees, Bezirksekretäre, Mitglieder des Parteikomitees in einem Stadtteil und Vorsitzende der Kolchosen gehörten zur verschiedenen Stufen der Nomenklatura. Es gab grosse Unterschiede zwischen den Stufen der Nomen-klatura.

Die Nomenklatura war nicht einheitlich, sondern hatte drei Bestandteile: in den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereichen zuständigen Nomenklatura. Die politische Nomenklatura war die Nomenklatura des Staatsapparats. Die wirtschaftliche Nomenklatura wie z.B. Chef eines Kombinats oder einer staatlichen Bank sowie die kulturelle Nomenklatura, die im kulturellen Bereich zuständig war. 2

2.2. Realsozialismus und dessen Unterschiede vom wissenschaftlichen Sozialismus

Laut Marx-Engels findet die sozialistische Revolution in den entwickelten kapitalistischen Ländern fast gleichzeitig statt. Das Zusammenleben der Zwei-Systeme ist nicht vorgesehen. Diese Koexistenz der Systeme fuhr zu betrachtlichen Änderungen im Sozialismus wie die Existenz des Staates, sogar der Armee und Bürokratie. Diese Art vom Sozialismus wurde als Realsozialismus sogar Staatssozialismus genannt.

Der sozialistische Staat hatte die Produktion und den Konsum geplant, daneben alle Medien und Veröffentlichungen, sowie alle Art von Versammlungen, Vereine und Organisationen kontrolliert. Der Staat hatte in jedem Bereich und bei jedem Anlass die Gesellschaft reglementiert. Die Gesellschaft war verstattlicht, nur der Bereich des Privatlebens war vom Staat unabhängig. 3

2.3. Entwickelte Sozialismus

Laut Kommunistischer Partei der Sovietunion war die erste Phase des Aufbaus des Sozialismus beendet. In der zweiten Phase, die als entwickelte Sozialismus benannt, wurden die Erhöhung der Produktion der Konsumgüter und wirtschaftliche Konkurrenz mit dem Kapitalismus vorgesehen. Das Einholen und Überholen waren die zwei wichtigsten Begriffe dieser Konkurrenz.

Laut Marx-Engels sollte die sozialistische Gesellschaft mehr Arbeitsproduktivität als die kapitalistische Gesellschaft haben. Der Sozialismus hatte niedrigere Arbeitsproduktivität als Kapitalismus und erst Einholen dann Überholen war nötig.

2.4. Marktsozialismus

Der Marktsozialismus im Allgemein wird als die Einführung des Marktmechanismus in die sozialistische Wirtschaft definiert. Im Staatssozialismus plannt der Staat die Produktion und den Konsum und die Wirtschaft wird durch Großplan (normalerweise Fünf-Jahres-Plan) reguliert. Der Marktsozialismus bedeutet Einführung eines zusätzlichen Marktregulierungs-instruments. Hochzentralisierte Planung reicht nicht für die wirtschaftliche Effizienz, sie soll deshalb durch den Markt ergänzt werden. 

Es ist verständlich, dass zahlreiche Kommunisten erhebliche Schwierigkeit haben, um den Marktsozialismus zu akzeptieren. Der Markt als Hauptregulationsinstrument charakterisiert die kapitalistische, dagegen die Zentralplanung die sozialistische Wirtschaft. In den kapi-talistischen Ländern existiert auch die Zentralplanung, bei der nur der Markt den Vorrang hat. Es gibt keine hundert prozentige Martkwirtschaft in den kapitalistischen Ländern. 

Der kritische Diskussionspunkt über den Marktsozialismus ist: Wie weit die sozialistische Wirtschaft einen Marktmechanismus als ein regulatives Instrument braucht? 

Wie ist das Verhältnis zwischen der Zentralplanung und dem Markt? 

Wie weit werden die Preise durch den Markt reguliert? 

Eigene Mischung von dem Markt und der Zentralplanung ist eine unzureichende Antwort, weil alle kapitalistischen Wirtschaften auch eine Markt-Zentralplanung-Kombination haben.

3. DISKUSSIONEN ÜBER DIE SOZIALISTISCHE WIRTSCHAFT IN DEN 60’ER JAHREN 

Die Probleme der sozialistischen Wirtschaft war ein wichtiges Thema in den Diskussionen über die Zukunf des Sozialismus. Die Hauptprobleme waren die Produktionserhöhung und die Beseitigung der Mißwirtschaft.

3.1. Die Wurzeln der wirtschaftlichen Reformen

Es war nicht einfach, die sozialistische Vergangenheit zu kritisieren. UdSSR war der Hauptgewinner des Krieges gegen Nazi-Deutschland und hatte große Prestige nicht nur in den sozialistischen Ländern, sondern in aller Welt. Die gehaltene Rede von Chruschtschow im 20. Parteitag der KPDSU (Kommunistische Partei der Sowjetunion) im Jahr 1956 über die gravierende Fehler von Stalin war eine Eröfnung der Selbstkritik in allen gesellschaftlichen Ebenen. Ohne diese Rede wäre die Kritik über die Probleme der sozialistischen Wirtschaft nicht möglich. 

Zweite Ursache für die Diskussionen über die sozialistischen Wirtschaft war das Ziel des Kommunismus.

“Eine Reihe von Ereignessen hatte einen Effekt wechselseitiger Steigerung erzeugt: Die spontanen Demonstrationen nach Juri Gagarins Raumflug; die kubanische Revolution, in ihrem Gefolge, eine Welle der ‘Revolutionsromantik’; der Umstand, dass die Partei sich ein neues Program mit dem Ziel der ‘Verwirklichung des Kommunismus’ bis spätestens 1980 gegeben hatte…” 4

Um den Kommunismus zu erreichen, ist ein enormer Zuwachs der Produktionstechnik nötig. Laut marxistisch-leninistischer Geschichtsauffassung hat der Kommunismus höchste Stufe der Produktionsentwicklung. Um diese Stufe zu erreichen ist die wissenschaftliche-technische Revolution unabdingbar. 

Sowjetische Kommunisten “… erklärten die Wirtschaft zum Hauptelement des weltweiten Wettstreites zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Die Wirtschaft hätte die Aufgabe, in allernächster Zeit die kapitalistischen Staaten einzuholen und überholen.” 5

Die kommunistischen Parteien waren für die kritischen Äußerungen über die Wirtschaft und die mögliche Kurskorrektur bereit. Es gab keine Spaltung zwischen Hardline-Kommunisten und Reformkommunisten solange die wirtschaftlichen Reformen die Produktionserhöhung ohne weitere Konsequenzen befürworten. Als die Reformen einiger maße praktisiert wurden, ist diese Spaltung sichtbar geworden. 

Um den Umfang der Reformen zu bestimmen war es nötig, die Facetten der Mißwirtschaft aufzulisten.

3.2. Facetten der Mißwirtschaft

In einem kapitalistischen Land hat man normalerweise nicht genügendes Geld für die Waren und Dienstleistungen. In einem sozialistischen Land hat man Geld aber keine genügende Waren und Dienstleistungen am Markt. Die Diskrepanz zwischen den Produzenten und Konsumenten ist immer das grösste Problem in einer sozialistischen Wirtschaft. Der sozialistische Staat hat die Produktion und den Konsum geplant. In einigen Bereichen der Wirtschaft wurde mehr produziert als nötig; in anderen Bereichen war die Unterproduktion der Fall. Die Fünf-Jahres-Pläne waren oft wegen der Fehleinschätzungen und weniger Berücksichtigung des Konsumenteninteressen gescheitert.

Die marxistische Ökonomen aus verschiedenen sozialistischen Ländern waren über die Facetten der Mißwirtschaft einig, aber bei der Lösungsvorschläge waren die große Differenzen sichbar.

3.3. Lösungsvorschläge

Die Lösungsvorschläge für die Beseitigung der Mißwirtschaft können auf drei geteilt werden: 

Offizielle (von den kommunistischen Parteien vorgeschlagene und zum Teil praktizierte) Lösungen, Lösungsvorschläge, die eine gewisse Änderung an der sowjetischen  Sozialismuskonzeption fordern und Vorschläge gegen die Wirtschaftsreformen. 

Fast alle wichtigen Personen in der Gesellschaft (Mitglieder des Politbüros und Zentralkomitees, kritische Intellektuellen, Ökonomen u.a.) haben für die Reformen be-fürwortet. Die Grundlage des Reforms war gleich: Einführung des Marktmechanismus in die sozialistische Wirtschaft. Diese Einführung bedeutete am Anfang als die kleine Änderungen im bestehenden System, danach kommt die Stufe des Marktsozialismus und am Ende allgemeine Kritik des bestehenden Systems sogar Marxismus-Leninismus. 

Die Grundlage des Streitpunkts bei den Reformen war immer gleich: Wie weit wurde der Marktmechanismus praktiziert? Ab einem bestimmten war Punkt der Konflikt unvermeidbar.

Die Reformvorschläge können in zwei Hauptpunkten geteilt werden: Allgemein akzeptierte Vorschläge (offizielle Lösungen) und Marktsozialismus.

3.3.1. Offizielle Lösungen

Als Lösung wurden die verschiedenen Facetten des Marktmechanismus vorsichtig eingeführt. Vorsichtig, weil bekannt worden war: der Markt reguliert die kapitalistische Wirtschaft aber der Plan die sozialistische. Das Verhältnis zwischen dem Markt und Plan in der sozialistischen Wirtschaft ändert sich je nach der Interpretation.  

Belohnung für die Produktionserhöhung

Wer mehr produziert, wird belohnt. Wenn eine Fabrik eine Überproduktion hat, werden die Arbeiter belohnt. Diese unsystematische und limitierte Einführung der Marktmekanismus fand in fast allen sozialistischen Ländern statt.

Dezentralisierung des Großplans 

Großplan wurde nicht detalliert vorbereitet, damit die Produktionseinheiten mehr Flexibilität haben. Fritz Behrens, ein bekannter Ökonom in der DDR, hatte die Auffassung, dass die Produzenten und Konsumenten durch mehr Flexibilität einen besseren Kontakt haben. 

Als die Kombinate mehr Autonomie hatten, fand eine Machtverschiebung vom politischen zum wirtschaftlichen Teil der Nomenklatura, die immer extra Probleme mit sich bracht.

Mehr Differenzierung der Einkommen in bestimmten Bereichen

Für das Einholen und Überholen sollte eine höhere technische Entwicklung stattfinden, deshalb Ingenieure und andere technischen Personal sollten besser bezahlt werden. Eine deutliche Gehaltdifferenzierung in der sozialistischen Gesellschaft war nötig. 

Ergebniss der offizielen Lösungen

Offizielle Lösungen hatten kein bemerkenswertes Ergebnis; die Reformen waren stecken geblieben.

“Alle versuchen immer wieder auf die eine oder andere Art, die Selbstständigkeit der betriebe zu erweitern und durch Marktkategorien wie Preise, Profite, Profitprämien usw. in den Betrieben das Interesse an einer nicht nur quantitativen, sondern auch qualitativen, effektiven und flexiblen Produktin zu schaffen. Aller derartigen ‘Reformen’ bleiben aber immer wider auf halbem Wege, in Kompromissen und Inkonsequenzen stecken.”

Šik vertritt die Auffassung, dass es neben den ökonomischen, auch die politischen und ideologischen Hindernisse gab.

3.3.  Marktsozialismus

Der Marktsozialismus im Kern ist die Rolle des Marktes im Sozialismus und wurde erstmal in der Sowjetunion diskutiert.

“… in den 1950’er Jahren in der Sowjetunion intensiver geführten Diskussionen über die Wirkungsweise des Wertgesetzes im Sozialismus.”

Die Diskussionen in der UdSSR spielten eine Legitimationsfunktion für die Diskussionen in den anderen Ländern. Eine Reihe von Ökonomen diskutierten in den 50’er und 60’er Jahren über die Rolle des Marktes im Sozialismus: “aus der UdSSR E.G. Liberman und W.W. Nowoshilow, aus Ungarn J. Kornai, aus Polen O. Lange und W. Brus sowie aus der CSSR J. Kosta und O. Šik.” 8  

Die Befürworter des Reformsozialismus hatten wichtige Gemeinsamkeiten:

“Bei allen Unterschiede im theoretischen Niveau und Konkretisierungsgrad der praktischen Vorschläge faste der polnische Wirtschaftsreformer Wlodzimierz Brus die in den verschiedenen Ländern nach 1956 unabhägig voneinander entwickelten Entwürfe in vier übereinstimmenden Zielfunktionen zusammen:

1.  Dezentralisierung der ökonomischen Entscheidungen, “Erweiterung des autonomen Bereichs der unteren Stufen der verstaatlichten Wirtschaft;”

2. Um die Rentabilität der staatlichen Unternehmen zu erhöhen, die Kernziffern in der Zentralplanung zu beschränken;

3. “Verknüpfung der Löhne und Gehälter der Mitarbeiter mit den wirtschaftlichen Ergebnissen des Unternehmens (…)” 9

4. Institutionelle Bedingungen für die Arbeiterselbstverwaltung zu schaffen.

Die höchste Funktionäre der kommunistischen Parteien und Reformökonomen wollten die wirtschaftlichen Reformen, doch unterscheiden sie sich darüber erheblich. Die streng be-grenzten Reformen fuhren kein Ergebnis wie es vorher erwähnt wurde. Die Vorschlägen der Reformökonomen hatten keine Möglichkeit, im vollen Umfang praktisiert zu werden und blieben oft auf dem Papier. Diese Ökonomen wurden oft von ihren verantwortlichen Positionen abgesetzt. 

Für Janos Kornai: „Sein Buch über die Überzentralisation und Bürokratisierung der Wirtschaft erschien synchron mit dem entsprechenden Problemstellungen und Lösuns-ansätzen in der DDR, Polen und der CSSR. In den folgenden Jahrzehnten wurde er der wichtigste theoretisch-systematische Analytiker der politischen Ökonomie des Staats-sozialismus, allerdings im Exil in den USA”  10

Fritz Behrens wurde 1954 zum Leiter der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik berufen und gleichzeitig war er der Stellvertretende Vorsitzende der staatlichen Plankommission und Mitglied des Ministerrates der DDR. Er wurde 1957 als Revizionist bezeichnet und verlor seine verantwortliche Position in der Regierung und in der Partei.

Nur in der CSSR hatten die Reformideen von Sik eine Unterstützung der erheblichen Teil der Partei und des Volkes.

3.4. Che Guevara

Er war nicht nur ein Guerillakämpfer, gleichzeitig ein Theoretiker des Sozialismus. 1964 besuchte er die Sowjet Union. Er war damals Industrieminister und Chef der National Bank in Kuba. Nach seiner Rückkehr hatte er die Auffasung, dass dieses System keine Zukunft hat, wenn es so weitergeht. Er wollte die komplete Abschaffung des Marktmechanismus und jeder Art von Belohnung. Stattdessen wollte er die Verstärkung der sozialistischen Moral. 

Die Reformideen von Guevara hatten einige Anhänger in der Nomenklatura. Sie hatten die Auffassung, dass es keine wirtschaftliche Probleme gäbe, wenn die Arbeiter eine höhere sozialistische Moral hätten. Šiks Kritik zu dieser Auffassung wird später erläutert. 

Die Reformideen von Guevara hatten keine Unterstützung in den sozialistischen Ländern und sie wurden nur im kleinen Umfang in Kuba ohne Erfolg praktiziert. 11

4. OTA ŠIK (1919-2004)

Bekannt als der Schöpfer der Wirtschaftsreformen des Prager Frühlings.

1961 war er der Leiter des ökonomischen Instituts der Akademie der Wissenschaften. 1962 war er Mitglied des Zentralkomitees der KPC.

1964 leitete er die Staats- und Parteikommission für die Wirtschaftsreform.

Im April 1968 ernannte Alexander Dubcek ihn als stellvertretender Ministerpräsident und Koordinator der Wirtschaftsreformen.

Nach der Militärintervention immigrierte er in die Schweiz.

5. WARUM WAR EIN REFORM DRINGEND NÖTIG IN DER CSSR?

Die Wurzeln der Wirtschaftsreformen lagen in den 50’er Jahren. Die Forcierung der Schwerindustrie nach dem sowjetischen Entwicklungsmodell hat die Wirtschaft umstrukturiert und die verehrende Folgen für die Gesellschaft gebracht.

“Zu den schwerwiegendsten Folgen, gehörte, dass die Priviligierte Position der Schwerindustrie zu einer unausgeglichenen Entwicklung aller Wirtschaftszweige führte – zu Lieferproblemen und zur Unfähigkeit der Wirtschaft, die materiellen Bedürfnisse der Gesellschaft zu befridigen. Im Jahr 1953 befand sich die tschechoslowakische Wirtschaft am Rand eines Zusammen-bruchs.” 

In den Jahren 1961 und 1962 kam ein schnelles Wachstum der Wirtschaft, kurz danach Stagnation und fiel das Nationaleinkommen. “Im Jahr 1963 waren alle Bemühungen zur Verabschiedung des dritten Fünfjahreplanes gescheitert, und es kam erstmals im Zeitalter der Planwirtschaft zu einem Rückstand des Volkseinkommens.” Der Großplan 1961-1965 musste außer Kraft gesetzt werden. 12

Die Wirtschaftsreformen wurden in zwei Phasen umgesetzt. “Als erste Phase kann die ‘rein ökonomische’ Reform, nach offizieller Redeweise das ‘Neue System der planmäßigen Lenkung der Volkswirtschaft’ bezeichnet werden, das im Januar 1965 vom ZK der KPC gebilligt wurde. (…) In der zweiten Phase –von Januar bis August 1968- bekam der Reformkonzept im Zuge des allgemeinen Demokratisierungsprozesses im ‘Prager Frühling’ eine völlig neue Gestallt.” 13 

Das Reformkonzept der KPC (Kommunistische Partei der Tschechoslowakei) trug von Anfang an die Unterschrift von Šik, nur sollte er seine Meinung im Laufe der Wirtschaftsreformen modifizieren. Der Grund dafür war die Ineffektivität des dezentral-teknokratischen Reformmodells in anderen sozialistischen Ländern.

“Alle Änderungen oder sogenanten Reformen in den sozialistischen Ländern, die sowohl aus ideologischen als auch aus politischen Gründen immer wieder versuchen, nur kleine Verbesserungen des administrativen Planungssystems – bei andauernder Unterdrückung des Marktes - durchzuführen, sind zum Scheitern verurteilt.” 14 

6. GRUNDLAGEN DER WIRTSCHAFTSREFORMEN

Šik bezeichnete seine Reformen manchmal als Marktsozialismus und manchmal als Dritter Weg. Die Argumentationsstruktur von Šik ist wie Folgende:

Erstens: Die wirtschaftliche Entwicklung der sozialistischen Länder war rückständiger als kapitalistischen Ländern. Diese Feststellung wurde allgemein akzeptiert, trotzdem gab es immer Täuschungsmanöver. Der zeitgenossische Entwicklungsgrad eines sozialistischen Landes wurde mit der Vergangenheit des Landes und nicht mit der Entwicklungsstufe der kapitalistischen Länder verglichen. Im Fall der Tschechoslowakai hat dieses Land eine betrachtliche wirtschaftliche Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg, nur diese Vergleich mit sich selbst war irreführend, weil was besonders wichtig war, war die Einholung und Überholung des wirtschaftlichen Entwicklungsgrads der kapitalistischen Länder. 

Zweitens: Laut Šik lag die Verantwortung für die Rückständigkeit der sozialistischen Wirtschaft bei der Unterdrückung des Marktmechanismus. Die Zentralplanung konnte nicht den Marktmechanismus als regulativen Mechanismus ersetzen. Šik hatte ganz andere Meinung als die Nomenklatura in den sozialistischen Ländern. Die Nomenklatura hatte die Auffassung, dass der Markt nur eine ergänzende Funktion haben konnte. Der Markt-mechanismus unterstützte die Effektivität des Großplans. Für Šik was besonders wichtig war der Markt; der Großplan hatte eine ergänzende Funktion. In diesem Fall sollten auch die mit dem Markt entkoppelten Regeln eingeführt werden wie große Unabhängigkeit der Betriebe, mehr Lohn Differenzierung durch wirtschaftliche Effektivität und Freisetzung der Preise (Marktpreise). 15

“Ohne Marktpreise fehlt das Grundkriterium für jede Effektivitätsberechnung für Substitutionserwägungen, für die wirtschaftliche Ausnutzung der Produktionsressourcen.” 16

Der wichtigste Unterschied zwischen dem Kapitalismus und dem Sozialismus liegt in der Eigentumsfrage. Im Kapitalismus haben die Privatpersonen sogar verschiedene Formen von Monopolon bzw. Oligopolen das Eigentum des Produktionsmittels, dagegen hat der Staat einzige Besitzer des Eigentums im Sozialismus. Šik hatte eine andere Antwort für die Eigentumsfrage.

Für Šik die einzige Lösung ist die Neutraleigentum, d.h. weder kapitalistisch noch staatlich. Die Betriebsmitarbeiter haben das Eigentum des Betriebes und ihre Einkommen werden mit den Marktresultaten entkoppelt. Sie haben die Möglichkeit mit ihren Stimmen die wirtschaftliche Aktivität des Betriebes beeinflussen und den Gewinn zu erhöhen. 17

Damit die Arbeiter fühlen sich verantwortlich für die Entwicklung der Produktion, sonst was sie interessieren, war die Fertigstellung des Prodiktionsziels im Plan. 

Šik kritisierte die Auffassung, dass die Erhöhung der sozialistischen Moral eine Lösung der wirtschaftlichen Probleme war. Laut Šik das Hauptproblem der sozialistischen Gesellschaft war die überzentralisierte Wirtschaftsordnung. Die Bürokratisierung und der undemokratische Entscheidungsmechanismus waren die obligatorischen Resultate dieses Phänomens. Šik kritisierte Guevara, Trotzkisten und Maoisten, weil sie die Hauptursache des Problems nicht betrachteten und beschäftigten sich nur mit den Ergebnissen. 

Šik hatte die Auffassung, dass die zentrale Planung nur die allgemeine Rahmenbedingungen und langfristige Ziele der Wirtschaft bestimmt; der Rest soll zu den Unternehmenskollektiven überlassen werden.

Šiks Ideen konnten nicht im Rahmen der Wirtschaftsreformen interpretiert werden. Wenn der Großplan seine Bedeutung verloren hätte, würden die Betriebe  eigenständig und die Betriebs-kollektiv hätte die Verantwortung des Betriebes übernomment; dann hätte die Nomenklatura in politischen und wirtschaftlichen Bereichen ihe Macht verloren.

“Im ’realsozialistischen’ System liegt die gesamte Entscheidungsbefugnis über die volkswirtschaftliche Entwicklung in den Händen eines monopolistischen Partei- und Planungsapparat…” 19 

Wenn sie das Entscheidungsmonopol in der Wirtschaft verlieren,  ist die politische Ent-machtung fast obligatorisch. Es war kein Wunder, dass die Nomenklatura gegen radikale Reformen bitterlich gekämpft hat. Šik hatte dieses Verhältnis 1971 im Exil festgestellt.

“Am größten aber ist (…) die Angst vor der Weiterentwicklung der wirtschaftlichen Liberalisierungen zu einer politischen Demokratisierung.” 20

7. FRITZ BEHRENS UND OTA ŠIK

Šik und Behrens mit Kornai waren drei bekannte Reformökonomen in den europäischen sozialistischen Ländern. Einige Bücher von Šik wurden in der DDR veröffentlicht. Šik und Behrens hatten neben Gemeinsamkeiten auch deutliche Unterschiede. 

Die beiden hatten die Auffassung, dass das Wirtschaftssystem der sozialistischen Länder nicht fähig war, in der qualitativen Entwicklung dem Westen gleichzukommen. Die Einholung und Überholung der westlichen Wirtschaft waren nicht möglich. 

Šik und Behrens hatten zwei große Unterschiede:
Erstens: Šik betrachtete das real existierende System als Sozialismus im Form von Staats-monopolismus. Dagegen war für Behrens dieses System noch nicht Sozialismus, sondern ein Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus. 

Zweitens: Für Šik war die Unterdrückung des Marktmechanismus die Ursache des Problems. Dagegen hatte Behrens die Auffassung, dass der Markt und Sozialismus unvereinbar waren. Für die Lösung des Problems hatte Šik die Auffassung, dass eine Kopplung der Planung mit dem Markt nötig war. Für Behrens war diese Beziehung zwischen Markt und Planung nur während der Übergangsperiode nötig, sonst der Sozialismus hatte keinen Marktmechanismus. 21

8. MÖGLICHE KONSEQUENZEN DES  PRAGER FRÜHLINGS IM SOZIALISTISCHEN BLOCK

Šik wollte ein anderes System: Sozialismus mit umfassenden Marktmechanismus und Demokratisierung in allen gesellschaftlichen Ebenen. Es war den einzigen Rettungsweg des Sozialismus.

“Es existiert nur ein einziger Weg zur Rettung des Sozialismus – sein wirtschaftliches und politisches Model grundlegend zu ändern.” 22  

Nach der Meinung von Šik sollte die Partei ihr Machtmonopol aufgeben und “ihren Stil der Parteiarbeit gründlich ändern. (…) Damit hatte er den Grundgedanken der Reformer formuliert; künftig sollte nicht mehr die leninistische Parteikonzeption die Macht der Partei legitimieren, sondern die Lebensverhältnisse der Menschen im Sozialismus sollen künftig den Maßstab ihres Handelns bilden.”  23  

Hier stand eine große Bedrohung für die Nomenklatura. Prager Frühling könnte verehrende Konsequenzen für die Nomenklatura in allen sozialistischen Ländern, besonders für Ungarn, Poland und DDR (Domino-Effect). Wenn ein Land im sozialistischen Block einen eigen-ständigen Weg für den Sozialismus wählen konnte, würden die anderen Länder auch dieses Beispiel folgen. 

Als die wirtschaftliche Reformen und ihre politischen Konsequenzen die absolute Macht der Nomenklatura auch in der UdSSR im Gefahr setzten, war die militärische Intervention unvermeidbar.

9. FAZIT

Warum war der Realsozialismus reformunfähig? 

Obwohl viele Mitglieder der Nomenklatura wirtschaftliche Reformen wollten, wurden deren Praktisierung ab einem bestimmten Punkt gekippt, verhindert, sogar durch die Militär-intervention gestoppt. 

Der Reformsozialismus war ein Sammelbegriff, weil es zwischen den Reformideen beträchtliche Diskrepanzen gab. Die Nomenklatura wollte nur wirtschaftliche Reformen, aber keine politische. Die Reformökonomen übereinstimmten sich über die Ursachen der Misswirtschaft, aber hatten verschiedene Reformvorstellungen. 

Die Reformbewegung in der Tschechoslowakei hatte einen Massencharakter. Die kommunistische Partei und das Volk (mit einzigen Außnahmen) unterstützten die Reformen. Die Reformbewegung in diesem Land stellte die Systemfrage. Sie wollte nicht nur wirtschaftliche Reformen, sondern eine andere Art vom Sozialismus jenseit den sowjetischen Typus durchführen. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg exportierte die Sowjetunion ihre gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung in die Ost- und Mittleeuropäischen Länder: wirtschaftliche Zentral-planung, die gesicherte Macht der kommunistischen Partei durch die Verfassung, die Priorität der schweren Industrie und Aufrüstung. Die Nomenklatura hatten sich mit diesem System identifiziert, deshalb andere Art vom Sozialismus war inakzeptabel. 

Die Nomenklatura wollte keine umfassenden Reformen, weil ihre Existenz dadurch bedroht wurde. Wirtschaftliche Reformen ohne politische Konsequenzen blieben als kozmetische Änderungen, die keine bemerkenswerte Ergebnisse gebracht hatten. Wenn die Betriebe deutlich mehr eigeninitiative hätten, hätte sich das Kraftverhältnis innerhalb der Nomenklatura zugunsten des wirtschaftlichen Teils verschoben. Der politische Teil würde dann die reformen blockieren. Wenn die Reformbewegung eine umfassende Demokra-tisierung wollte, war dann die Existenz der ganzen Nomenklatura im Gefahr. Diese Gefahr bestand nicht nur in einem Land, sondern wegen der “Dominoeffekt) für alle sozialistischen Länder. 

Als die Reformen einen Machtverlust bedeuteten, blockierte die Nomenklatura die Reformen. Als die Mehrheit der Partei die Reformbewegung unterstützte (wie der Fall in der Tschechoslowakei), dann fand eine militärische Intervention statt (Invasion).

Der Realsozialismus war reformunfähig, weil innere Blockade ziemlich groß war. Um-fassende Reformen fuhren zur Systemfrage als die Reformbewegung einen Massencharakter hatte, der zu einem grossen Widerstand der Nomenklatura verursachte.

10. QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS

a) Quellen
Stefan Karner (Hrsg.): Prager Frühling. Das Internationale Krisenjahr 1968, Band I: Beiträge, Köln 2008.

b) Literaturverzeichnis
Eyal, Gil/Szelenyi, Ivan/Townsley, Eleanor: The Theory ou Post-Communist Managerialism, in: New Left Review, Nr. 222/1997.
Guevara, Che: Economics and Politics in the Transition to Socialism, London 1998.
Kornai, Janos: The Socialist System, Oxford 1992.
Krause, Günter und Janke, Dieter (Hrsg.): „Man kann nicht Marxist sein, ohne Utopist zu sein…“, Hamburg 2010.
Kosta, Jiri: Abriß der sozialökonomischen Entwicklung der Tschechoslowakei 1945-1977, Frankfurt a.M. 1978.
Mylnar, Zdenek: Der Prager Frühling”, Köln 1983.
Šik, Ota: Fakten der tschechoslowakischen Wirtschaft, Zürich 1969.
Šik, Ota: Der Strukturwandel der Wirtschaftssysteme in den osteuropäischen Ländern, 
Zürich 1971.
Šik, Ota: Der Dritte Weg, Hamburg 1972.
Šik, Ota: Ein Wirtschaftssystem der Zukunft, Berlin 1985.
Veser, Reinhard: Der Prager Frühling 1968, Erfurt 2008.
Šik, Ota, Wirtschaftssysteme, Zurich 1987.
Staniszkis, Jadgiwa: Post-Kommunismus, Versuch einer soziologischen Analyse, in: Prokla (1998) 28/3. 


——————-
1 Šik, Ota, Wirtschaftssysteme, Zurich 1987, S. 109. 

2 Eyal, Gil/Szelenyi, Ivan/Townsley, Eleanor: The Theory ou Post-Communist Managerialism, in: New Left Review, Nr. 222/1997, S. 60-92. 

3 Staniszkis, Jadgiwa: Post-Kommunismus, Versuch einer soziologischen Analyse, in: Prokla (1998) 28/3, S. 375-394. 

4 Zubok, Vladislav: Die sowjetrussische Gesellschaft in den sechziger Jahren, in: Stefan Karner (Hrsg.): Prager Frühling. Das Internationale Krisenjahr 1968, Band I: Beiträge, Köln 2008, S. 828. 

5 Karel, Kaplan: Die Wurzeln der 1968er Reform, in in: Stefan Karner (Hrsg.): Prager Frühling. Das Internationale Krisenjahr 1968, Band I: Beiträge, Köln 2008, S. 96.

6 Šik, Ota: Der Strukturwandel der Wirtschaftssysteme in den osteuropäischen Ländern, Zürich 1971, S. 26.

7 Steiner, Helmut: Fritz Behrens im osteuropäischen Kontext, in: Günter Krause und Dieter Janke (Hrsg.): “Man kann nicht Marxist sein, ohne Utopist zu sein…”, Hamburg 2010, S. 31.

8 Tesch, Joachim: Fritz Behrens, Ota Šik und die Debatte über den Sozialismus im 21. Jahrhundert, in: Günter Krause und Dieter Janke (Hrsg.): “Man kann nicht Marxist sein, ohne Utopist zu sein…”, Hamburg 2010, S. 130. 

9 Steiner, Helmut: Fritz Behrens im osteuropäischen Kontext, in: Günter Krause und Dieter Janke (Hrsg.): “Man kann nicht Marxist sein, ohne Utopist zu sein…”, Hamburg 2010, S. 25.

10 Steiner, Helmut: Fritz Behrens im osteuropäischen Kontext, in: Günter Krause und Dieter Janke (Hrsg.): “Man kann nicht Marxist sein, ohne Utopist zu sein…”, Hamburg 2010, S. 32. 

11 Guevara, Che: Economics and Politics in the Transition to Socialism, London 1998. 

12 Karel, Kaplan: Die Wurzeln der 1968er Reform, in: Stefan Karner (Hrsg.): Prager Frühling. Das Internationale Krisenjahr 1968, Band I: Beiträge, Köln 2008, S. 94-5. 

13 Kosta, Jiri: Abriß der sozialökonomischen Entwicklung der Tschechoslowakei 1945-1977, Frankfurt a.M. 1978, S. 133. 

14 Šik, Ota: Der Strukturwandel der Wirtschaftssysteme in den osteuropäischen Ländern, Zürich 1971, S. 21.

15 Šik, Ota: Argumente für den Dritten Weg, Hamburg 1973, S. 53-87. 

16 Šik, Ota: Der Strukturwandel der Wirtschaftssysteme in den osteuropäischen Ländern, Zürich 1971, S. 22. 

17 Šik, Ota: Grundpfeiler eines demokratisch-sozialistischen Wirtschaftssystems, in: Zdenek Mlynar (Hrsg.): Der „Prager Frühling“, Köln 1983, S. 188-9. 

18 Šik, Ota: Argumente für den Dritten Weg, Hamburg 1973, S. 154-171. 

19 Šik, Ota: Grundpfeiler eines demokratisch-sozialistischen Wirtschaftssystems, in: Zdenek Mlynar (Hrsg.): Der “Prager Frühling”, Köln 1983, S. 168. 

20 Šik, Ota: Der Strukturwandel der Wirtschaftssysteme in den osteuropäischen Ländern, Zürich 1971, S. 34. 

21 Behrens, Fritz: Exkurs: Zu Ota Šiks Drittem Weg, in: Günter Krause und Dieter Janke (Hrsg.): “Man kann nicht Marxist sein, ohne Utopist zu sein…”, Hamburg 2010, S. 172-87. 

22 Šik, Ota: Fakten der tschechoslowakischen Wirtschaft, Wien 1969, S. 10.

23 Wilke, Manfred: Die DDR in der Interventionskoalition gegen den “Sozialismus mit menschlichem Antlitz”, in: Zdenek Mlynar (Hrsg.): Der “Prager Frühling”, Band I: Beiträge, Köln 1983, S. 423-24.