Kurze Zusammenfassung der zeitgenossischen türkischen Literatur


Vortrag am 13.02.09 in Bregenz 

Es gibt verschiedene Facetten der zeitgenössischen Literatur: Entweder sind die AutorInnen zeitgenössisch oder das Thema ist ein Gegenwartsthema. Einige Themen sind eigentlich alt bekannt, trotzdem zeitgenössisch. 

Ich konzentriere mich auf drei Autoren und ein Thema, ein altes und zeitgenössisches Thema: die Identität.Dieses Thema ist seit mehr als hundert Jahren aktuell. Denn die Türken beschäftigen sich mit ihrer eigener Identität seit mehr als hundert Jahren.Wer sind wir? Haben wir eine Funktion in der Geschichte? Wenn ja, was ist unseren Platz in der Geschichte der Menschheit, besonders im 20. Jahrhundert? 

Was heißt ein Türke zu sein?

Die Literatur eines Landes kann nicht außerhalb der Kulturgeschichte der Gesellschaft bewertet werden. Die große Identitätsproblematik spiegelt sich in der Literatur wider.Die Literatur beschäftigt sich mit dem Unbewussten in der Gesellschaft und im Individuum. 

Die Türken haben eine großes und 600 Jahre dauerndes Reich (Osmanische Reich) verloren und diesen Verlust nie vergessen können. Dieses Reich lebt noch im Unterbewusstsein der Türken. 

In den letzten Jahren des osmanischen Reiches, beschäftigten sich viele Intellektuelle und Autoren mit dem Thema der Vereinbarkeit der westlichen Zivilisation mit dem Islam. Es wurde keine konkrete Lösung gefunden.Die erste Modernisierungswelle in der Türkei, die mit Atatürk anfing, intensivierte die Identitätskrise der türkischen Gesellschaft. Diese Gesellschaft wurde verwestlicht, und dadurch brach die kulturelle Kontinuität ab. Das arabische Alphabet wurde per Gesetzt abgeschafft und das lateinische Alphabet eingeführt und danach wurden hunderte von Wörtern durch europäische ersetzt. So hat sich die türkische Sprache in kurzer Zeit so radikal verändert, dass heutige Generationen die vor kaum einem Jahrhundert entstandenen Werke nicht mehr lesen und verstehen können. 

Widersprüche im Verwestlichungsprozess, der Konflikt westlichen- und östlichen Werte ist immer ein beliebtes Thema in der Literatur.
   
Drei bekannte Schriftsteller aus verschiedenen Generationen beschäftigten sich mit diesem Thema in ihren literarischen Werken: Ahmet Hamdi Tanpınar, Orhan Pamuk und Elif Şafak. 

Ahmet Hamdi Tanpınar, einer von  bekanntesten türkischen Schriftsteller, ist im Jahr 1949 gestorben, aber seine Romane sind immer noch hoch aktuell. In den Romanen “Harmonie” –einen der besten Romane in der türkischen Literatur- und “Das Institut zum Einstellung der Uhren” beschäftigte er mit der Identitätsproblematik der Türken, eine Nation zwischen Osten und Westen liegt und gehört zu keinem. Tanpınar war für eine Verknüpfung der östlichen und westlichen Kulturen und er wusste schon, dass diese Problematik seit Ende des 19. Jahrhundert besteht. Östliche Identität ist geprägt vom Islam und hier liegt das Problem der modernen Türkei: Der Platz des Islam in der gesellschaftlichen und persönlichen Leben. Dieses Problem ist bis heute ungelöst. Bei dieser Problematik gibt es zwei Extreme: Die so genannten “aufgeklärten Köpfe” lehnen das Islamismus total ab. Sie betrachten den Islam als eine private Sache. Sie vernachlässigen, dass der Islam nicht nur ein privates, sondern auch das gesellschaftliche Leben reguliert. Andere Extreme lehnt die komplette Verwestlichung ab. Die Literaturgeschichte der modernen Türkei ist voll von Grabenkämpfen zwischen zwei Fronten. Der laizistische Teil der Gesellschaft lehnte Ahmet Hamdi Tanpınar ab, weil er für eine vernünftige Mischung von östlichen- und westlichen Werten war. 

Tanpınar war eigentlich ein westlich orientierter Mensch und repräsentierte eine andere Moderne in der Geschichte der Türkei. Diese Moderne, anders als Kemalismus, lehnte nicht die östlichen Wurzeln der Gesellschaft ab. Er wollte auch eine nach der westlichen Zivilisation orientierte Gesellschaft mit Versöhnung ihrem Wurzeln. Diese sind Osmanisches Reich und moderate Islamismus. 

Gleiches Thema findet man in den Romanen von Orhan Pamuk. Das Nobel Komitee begründete ihre Nobel Literatur Preis Verleihung für Orhan Pamuk besonders bemerkenswert: Er nutzte westliche Romantechnik um die östliche Themen zu erzählen.”In seinem Roman “Das Schwarze Buch”,  und “Schnee” beschäftigte sich mit dem Einfluss des Islam in der zeitgenössischen türkischen Gesellschaft. 

Die Geschichte des Osmanischen Reichs ist ein anderes beliebtes Thema in seinen Romanen. Er erzählt die Zeit der Osmanen, um ihren Einfluss in der modernen Türkei zu reflektieren. 

Es gibt keine Synthese zwischen Ost- und West, in der Realität leben die Menschen im zweidimensionalen Identitätsraum. Weil keine konsistente Mischung zwischen Ost und West stattgefunden hat, große Verschiebung von Osten nach Westen oder vice versa ist immer möglich. Ahmet Hamdi Tanpınar sagte: “Wir wollen eine Mischung von östlichen- und westlichen Werten, statt dessen haben wir Menschen mit doppeltem Charakter.” 

Die verschiedene Facette dieser Charaktere ist ein beliebtes Thema in der zeitgenössischen türkischen Literatur. 

Ob Orhan Pamuk als Muslim, ein überzeugter Demokrat und Europäer gilt als wünschenswerte Synthese, bleibt aber noch unentschieden. 

Elif Shafak behandelte vorwiegend historische und islamisch-mystische Themen. Die Kritiker, die den kemalistischen Modernismus verteidigen, kritisieren ihre Sprache. Sie verwendet meistens nicht die neuen türkischen Wörter, sondern das alte Osmanische.Ihre Themen kreisen um aktuelle Identitätskrisen; von der Ausgrenzung als Minderheit bis zu Persönlichkeitsstörungen. 

Für Elif Shafak steht Ahmet Hamdi Tanpınar als literarischer Grundstein im Mittelpunkt ihres schriftstellerischen Werdens. Die geistige Haltung von Tanpınar basiert auf der Synthese von Wissen, Kunst, Mystik, Natur und Kultur. Für ihn nur in der humanistischen Nutzung dieser Synthese für die ganze Menschheit wäre eine sinnerfüllte Zukunft begründbar. 

Die blutige Geschichte ist auch ein wichtiges Thema innerhalb der Literatur. Der Völkermord an den Armeniern, der seit Jahren andauernde schmutzige Krieg gegen die Kurden sind die beliebten und gefährlichen Themen.Elif Shafaks Roman über eine türkisch-armenische Familiengeschichte, Der Bastard von Istanbul, sorgte in der Türkei, wo die Aufarbeitung der türkisch-armenischen Geschichte weitestgehend tabuisiert ist, für Aufsehen. Elif Shafak, wie Orhan Pamuk, wurde unter Berufung auf Artikel 301 des türkischen Strafgesetzes (“öffentliche Verunglimpfung der Republik und der Grossen Türkischen Nationalversammlung”) angeklagt. 

Nach nationalen und internationalen Protesten wurden beide Verfahren eingestellt. 

Ob Elif Shafak eine andere türkische Moderne repräsentiert, ist noch ungewiss. 


Engin Erkiner